Lesung von Kathrin Burger
Wer bin ich, wenn nicht mehr der Beruf mein Leben bestimmt? Die Autorin und langjährige Deutschlehrerin Kathrin Burger las aus ihrem poetischen Roman «Vor mir wird es Morgen».
30 Jahre lang war Kathrin Burger Deutschlehrerin an der NKSA. Sie hat die Kultur dieser Schule mitgeprägt und ist vielen in guter Erinnerung. Es war darum eine besondere Freude, als sie im September als Autorin eines Romans auf die Bühne der Aula zurückkehrte. Auch für sie sei dies ein spezieller Moment, sagte sie.
30 Jahre lang Deutschlehrerin – und dann mit einem Schlag pensioniert. Was nun? Trotz einem Gefühl von Befreiung stellte sich Kathrin Burger auch existenzielle Fragen: Wer bin ich ohne Stunden- und Semesterplan, ohne Sitzungen, ohne den Auftritt im Klassenzimmer? Was von dem bisher gelebten Leben hat jetzt noch Bedeutung?
Sie setzte sich diesen Fragen aus. Immer frühmorgens im Dämmerlicht schrieb sie auf, was sie beschäftigte. Aus der täglichen Écriture automatique entwickelte sich im Lauf der Zeit ein Roman: «Vor mir wird es Morgen». Ihr Text passt ins beliebte Genre der Autofiktion, in dem persönlich Erlebtes literarisch verarbeitet wird.
Die Ich-Erzählerin im Roman, das Alter Ego der Autorin, wirft einen unbestechlichen Blick auf ihr Dasein als Rentnerin: «Es ist nur so, dass sich mein altes Leben gerade aus dem Staub macht. Das Ansehen, das Aussehen, das Auftreten. Alles nicht mehr wichtig, nicht mehr gefragt. Die Vorsilben blättern ab wie alter Verputz. Was sehe ich, wenn ich nicht mehr aussehe? Wo trete ich hin, wenn ich nicht mehr auftrete?»
Die Erwartungen des Umfelds sind klar: Die Pensionierte wird doch jetzt wohl eigene Projekte verfolgen, reisen oder ehrenamtliche Aufgaben übernehmen wollen. Die Ich-Erzählerin allerdings tut nichts dergleichen. Sie tut vielmehr – nichts. Sie steht am Fenster. Schaut zu, wie es Tag wird, jeden Tag. «Mein Leben findet auf einer inneren Bühne statt», konstatiert sie.
Auf dieser inneren Bühne tauchen allmählich Erinnerungen auf: an das eigene Leben als Berufs- und Familienfrau. An die Studienzeit, die Studentenunruhen 1970 oder den Aufenthalt an der Sorbonne in Paris. An Liebschaften, Freundschaften. An das Haus und den Garten der Kindheit. An die Eltern, die ihr Leben strengen moralischen Prinzipien unterwarfen. An den klugen, manchmal allzu dominanten grossen Bruder, den Schriftsteller Hermann Burger.
Mit Wahrhaftigkeit und psychologischem Gespür erzählt Kathrin Burger von diesem Leben, das zumindest in Teilen ihr eigenes ist. Sie blickt zurück auf ihr früheres Ich und auf Menschen, die ihr wichtig waren, mit einer Mischung aus Distanz und Zärtlichkeit. Ambivalentes darf ambivalent bleiben. Nie gerät der Text in Gefahr, die «guten alten Zeiten» zu verklären.
Wer bin ich, wenn nicht berufliche und familiäre Pflichten mein Leben bestimmen? Im Verlauf der Lektüre wird für die Ich-Erzählerin klar: Ich bin (auch) meine eigene Geschichte. Das, was ich durch mein Erinnern zu meiner Geschichte mache. Der Roman sagt es so: «Das gelebte Leben streicht vorbei. Die Erinnerungen jedoch, die es nicht wiederbringen können, erfinden es nochmals neu.»
Die Lesung von Kathrin Burger lud alle dazu ein, sich auf die eigene Geschichte einzulassen. Dem leistete das Publikum gerne Folge: Beim anschliessenden Apéro konnten die Gäste, darunter auch einige pensionierte Lehrpersonen, die gemeinsamen Erinnerungen aufleben lassen.
Text: Mirjam Caspers
Angaben zum Roman:
Kathrin Burger: Vor mir wird es Morgen. Rotpunktverlag, 2023