Werk­an­ga­ben

Künst­ler: Willy Müller-Britt­nau (1938 – 2003)
Titel: ohne Titel
Jahr: 1994
Mate­rial: Beton, Granit und Marmor
Grösse: Höhe 120 cm, Breite 160 cm, Tiefe 80 cm
Stand­ort: Wiese

Volu­men im Gleichgewicht

Auf den ersten Blick erscheint die mehr­tei­lige Plas­tik aufgrund ihrer ecki­gen und streng geome­tri­schen Formen starr und rigide. Doch gleich­zei­tig strahlt sie eine ruhige Harmo­nie aus, da sich recht­eckige Blöcke und Drei­eck in einem ausglei­chen­den Verhält­nis befinden.

Hinter der geome­tri­schen Strenge und der kühlen Ober­flä­che der Plas­tik verbirgt sich das mathe­ma­ti­sche Denken des Künst­lers. Willy Müller-Britt­nau schuf sie aus drei verschie­de­nen Körpern, drei verschie­de­nen Mate­ria­lien mit unter­schied­li­cher Farb­wir­kung und drei verschie­de­nen Oberflächenbehandlungen.

Die drei unter­schied­li­chen Körper weisen das glei­che Volu­men auf, sie vari­ie­ren je den Inhalt von drei Würfeln mit einer Seiten­länge von 40 Zenti­me­tern. An der Basis bilden drei Würfel liegend einen Winkel, darin stehen die Würfel zur Recht­eck­säule gesta­pelt. An diese lehnt sich über die ganze Höhe pass­ge­nau das schwarze Drei­eck, das an der Basis zwei mal einen Würfel misst. Durch die Kombi­na­tion dieser einzel­nen Körper entsteht eine Skulp­tur im Gleich­ge­wicht, ein Ganzes aus indi­vi­du­el­len Teilen.

Die Basis ist aus weiss­lich-grauem Marmor, die Säule aus hell­grauem Beton – den Kontrast setzt das Drei­eck aus schwar­zem Granit. Für die drei Mate­ria­lien wählte Willy Müller-Britt­nau verschie­dene Verfah­ren der Verar­bei­tung: Gies­sen für Beton, Fräsen für Marmor, der Granit ist gefräst und poliert. Die Verar­bei­tung ist exakt, die Ober­flä­chen sind glatt und die Kanten präzise, aber nicht scharf.

Inter­es­sant wird es, wenn man um das Kunst­werk herum­geht. Das Objekt wandelt sich stetig: Je nach Perspek­tive verliert oder gewinnt es an Formen, gewisse Teile des Werkes verschwin­den und andere wiederum stechen mehr heraus. Nicht nur verän­dern sich Schwer­punkt und Propor­tio­nen, sondern auch die Refle­xion, die durch das schwarze Drei­eck entsteht: Es spie­gelt sein Umfeld in sich selbst, dadurch inter­agiert es mit seiner Umge­bung und stif­tet mich ebenso dazu an.

Durch die Kompo­si­tion und ihre stati­sche Plat­zie­rung auf der Wiese scheint es, als ob das Werk Wurzeln in den Boden geschla­gen hätte, die Plas­tik wirkt unbe­weg­lich und zugleich stark und bodenständig.

Die Plas­tik zeigt einfa­che geome­tri­sche Formen, die syste­ma­tisch ange­ord­net sind. Klare Linien, die Beto­nung von Volu­men, Genau­ig­keit und Präzi­sion zeich­nen auch die weite­ren Werke von Müller-Britt­nau aus. Sie verwei­sen auf den Einfluss der Konkre­ten Kunst. Für diese geome­trisch-konstruk­tive Kunst­rich­tung, die ab den 1930er Jahren entstand und inter­na­tio­nal an Bedeu­tung gewann, stan­den Geome­trie, System, Regel und Regel­bruch im Vordergrund.

Die Beto­nung von Gleich­heit und Gleich­ge­wicht ist ein zentra­les Thema der konkre­ten Kunst. Die Künst­ler verzich­te­ten ab der Mitte des 20. Jahr­hun­derts zuneh­mend auf die hier­ar­chi­sche Tren­nung von Figur und Hinter­grund (oder Figur und Sockel), jedes Element gilt als gleichwertig.

Dieser Gedanke ist auch beim vorlie­gen­den Werk klar zu sehen, bei dem die Volu­mina der drei Teile gleich gross sind.

Willy Müller-Britt­nau

Willy Müller-Britt­naus Lebens­werk stand im Zeichen steti­gen Wandels: Nach einer Lehre als Retou­cheur durch­lief er fast 50 Jahre lang verschie­dene künst­le­ri­sche Phasen und Entwick­lun­gen. Die Begeg­nung mit dem Action Pain­ting 1958 führte ihn von der noch gegen­ständ­lich-expres­si­ven Male­rei hin zum freien Gestus. Ange­regt durch eine weitere ameri­ka­ni­sche Kunst­rich­tung, die Farb­feld­ma­le­rei, wandte er sich in den 1960er Jahren zuneh­mend abstrak­ten Formen zu und entwi­ckelte eine geome­tri­sche Formen­spra­che, wobei er sich erst­mals als Vertre­ter der konkre­ten Kunst bezeich­nete. Einige Künst­ler, die der Gruppe «Zürcher Schule der Konkre­ten» ange­hör­ten, defi­nier­ten diese Kunst­rich­tung sehr eng. Sie folg­ten Syste­men und geome­trisch-mathe­ma­ti­schen Regeln, welche keine Emotio­nen oder Stim­mun­gen auslö­sen soll­ten. Willy Müller-Britt­nau benutzte zwar auch Systeme, aber meist nur, um Farb­flä­chen zu bestim­men. Farbe war sein wich­tigs­tes Medium. Er löste sich vom ideo­lo­gisch-stren­gen Ansatz der konkre­ten Kunst, reflek­tierte seine Werke stets und suchte neue Wege und Ausdrucks­for­men. Daher wurde er von den «Zürcher Konkre­ten» nicht als einer der ihren angesehen.

Ab den 1970er Jahren schuf Müller-Britt­nau verschie­dene Kunst-am-Bau-Werke, oft für Innen­räume – so zum Beispiel im Schul­haus Nieder­lenz, wie seine Witwe im Gespräch ausführt. Seine drei­tei­li­gen, ebenso farben­präch­ti­gen wie gross­for­ma­ti­gen Metall­rah­men von 1970 (in Zusam­men­ar­beit mit Albert Siegen­tha­ler) gibt es in Aarau gleich doppelt zu sehen: im Rathaus­gar­ten und im Park des Kantons­spi­tals. 1994 entstand die Skulp­tur an der NKSA, die anders als seine meis­ten Werke auf Bunt­far­ben verzich­tet und nur mit der Wirkung und Eigen­farbe der verschie­de­nen Mate­ria­lien spielt. Aber sie zeigt das Anlie­gen des Künst­lers Willy Müller-Britt­nau, der sein Leben lang nach Gleich­ge­wicht und Harmo­nie strebte.

Meine Gedan­ken

Das Kunst­werk bewirkt ein Gefühl von Stabi­li­tät und Gleich­ge­wicht. Die Risse in Beton und Marmor kontras­tie­ren dieses Gefühl jedoch und zeugen von Verletz­lich­keit und Vergäng­lich­keit. Die Witte­rungs­ein­flüsse und Umwelt­ver­än­de­run­gen verän­dern das Werk. Dies kann als Meta­pher für Verän­de­rung und Heraus­for­de­run­gen im Leben verstan­den werden, was dem Werk Mensch­lich­keit verleiht und es zugäng­li­cher für den Betrach­ter macht.

Die Wahl des Stand­orts ist inter­es­sant: Die Ausrich­tung des spie­geln­den und formal dyna­mi­schen Drei­ecks gegen den Neubau symbo­li­siert, wie eng Kunst und Bildung mitein­an­der verbun­den sind. Die Verbin­dung betont den Ort als Zentrum des Lernens und der intel­lek­tu­el­len Entwicklung.

Justine Kauf­mann, Schwer­punkt­fach Bild­ne­ri­sches Gestal­ten, 2023