Werk­an­ga­ben

Künst­le­rin: Gillian White (*1939)
Titel: Grosse Schaukel
Jahr: 1993
Mate­rial: Corten-Stahl
Grösse: Höhe 117.5 cm, Länge 130 cm, Tiefe 22 cm
Stand­ort: Aussen­raum Ost vor der Mediothek

Schau­keln auf Spit­zen – Spit­zen auf Schaukel

Der Halb­mond aus Corten-Stahl, an welchem vier spit­zige Drei­ecks­for­men und am oberen Ende eine abschlies­sende, geschwun­gene Platte plat­ziert sind, steht draus­sen vor der Medio­thek der Neuen Kantonsschule.

Beim Betrach­ten der «Gros­sen Schau­kel» fällt mir als Erstes die warme, dunkle Farbe des Corten-Stahls auf. Corten-Stahl ist eine Stahl­le­gie­rung, deren innere Struk­tur auch erhal­ten bleibt, wenn das Mate­rial Wetter und Klima ausge­setzt ist. Nur die äussere Schicht rostet, quasi zum Schutz. Die Farb­pa­lette bleibt daher ziem­lich mono­chrom, doch bei genaue­rem Unter­su­chen der Ober­flä­che sieht man ein reiches Spek­trum von warmen, dunk­len, erdi­gen Tönen, die von Rost­rot über Rost­braun bis hin zu einem sehr dunk­len Braun reichen.

Die «Grosse Schau­kel» hat schon eini­ges erlebt: das Mate­rial weist mitt­ler­weile an gewis­sen Stel­len dunkle Verfär­bun­gen auf und ist verwit­tert. Ange­wach­sene Flech­ten und Schich­ten von Staub vermit­teln eine melan­cho­li­sche, verlas­sene Stim­mung. Die dezen­trale Plat­zie­rung im Unter­ge­schoss vor der Medio­thek betont dieses Gefühl der Verlas­sen­heit und den Eindruck, dass sich niemand um das Werk kümmert.

Von ihrer Form her wirkt die «Grosse Schau­kel» aller­dings nicht träge, sondern im Gegen­teil dyna­misch: Sie liegt nicht ruhig ausba­lan­ciert, sondern rich­tet sich einsei­tig leicht auf. Der grosse, geschwun­gene Halb­mond steht im Kontrast zu den klei­nen, spit­zi­gen Dreiecksformen.

Das rohe, rostige Mate­rial erzeugt im Zusam­men­spiel mit den präzi­sen geome­tri­schen Formen eine Ästhe­tik, die an indus­tri­elle Produkte erin­nert. Mit ein wenig Phan­ta­sie taucht die betrach­tende Person in die vergan­gene Welt der Fabrik­hal­len und Maschi­nen ein, erin­nert sich an Eisen­bahn­brü­cken oder den Eiffel­turm, Konstruk­tio­nen, die aus Stahl­trä­gern gebaut wurden.

Gillian White

Gillian White wuchs in England auf und besuchte eine Tanz­schule mit der Absicht, profes­sio­nelle Tänze­rin zu werden. Diesen Traum konnte Sie sich nicht erfül­len. Sie lässt ihre tänze­ri­sche und musi­ka­li­sche Ader jedoch auf sehr eigene, einzig­ar­tige Art in ihre Kunst einflies­sen. Ich sehe die Dyna­mik in den geschwun­ge­nen Plat­ten und in der Fähig­keit des Werkes, tatsäch­lich zu schau­keln. Die Drei­ecke sind gleich­mäs­sig, rhyth­misch ange­ord­net, die Winkel nie recht­wink­lig. Zusam­men erzeu­gen sie ein munte­res Stakkato.

Die Tatsa­che, dass Gillian White im England der Nach­kriegs­zeit aufge­wach­sen ist, dem Land der Schwer­indus­trie, lässt vermu­ten, dass ihr Werk die Indus­tria­li­sie­rung und deren Auswir­kun­gen auf Natur und Gesell­schaft thema­ti­siert. Im Gespräch mit Gillian Whites Toch­ter, Johanna Siegen­tha­ler, konnte ich erfah­ren, dass Gillian White viele ihrer Werke in Bezug zur Natur oder gar zum Kosmos setzte, oft erschuf sie sie für eine bestimmte Umge­bung und bettete sie entspre­chend ein.

Gillian White genoss eine breite künst­le­ri­sche Bildung in London und Paris. Ende der 1960er Jahre kam sie zusam­men mit ihrem Mann, dem Bild­hauer Albert Siegen­tha­ler, in die Schweiz. Von ihrer Toch­ter erfuhr ich, dass sich Gillian White nicht gerne in Schub­la­den stecken lässt und nach der Frei­heit strebt, ihrem subjek­ti­ven momen­ta­nen Zustand entspre­chend zu kreieren, was ihr gefällt.

Die Verwen­dung von rohem, indus­tri­el­lem Mate­rial für räum­li­che Arbei­ten entspricht dem Zeit­geist ab den 1960er Jahren. Viele Künst­le­rin­nen und Künst­ler, nicht nur dieje­ni­gen der italie­ni­schen Arte Povera-Bewe­gung, sondern auch abstrakt arbei­tende wie der ameri­ka­ni­sche Plas­ti­ker Richard Serra (ein Zeit­ge­nosse von Gillian White) distan­zier­ten sich von der tradi­tio­nel­len Bild­haue­rei und expe­ri­men­tier­ten mit indus­tri­el­len Materialien.

Gillian White mochte es immer, über den Rahmen hinaus­zu­den­ken und Heraus­for­de­run­gen zu meis­tern. Ich finde es faszi­nie­rend und bewun­derns­wert, wie sie ihre harten, kanti­gen Werke mit Natur und Tanz verbin­det und diese leicht, rhyth­misch und dyna­misch gestaltet.

Fynn Meier, Schwer­punkt­fach Bild­ne­ri­sches Gestal­ten, 2023