Werk­an­ga­ben

Künst­le­rin: Ilse Weber (1908−1984)
Titel: Kompo­si­tion mit Taube auf dem Fenstersims
Jahr: ohne Datum
Tech­nik: Öl auf Leinwand
Grösse: 159 cm x 76 cm
Stand­ort: Altbau 2. Stock Zimmer 25, Leih­gabe des Aargauer Kunsthauses

Melan­cho­lie draus­sen wie drinnen

Wie und wann das Gemälde von Ilse Weber entstand und in Besitz des Kantons Aargau kam, ist nicht bekannt. Die Neue Kantons­schule hat dieses Gemälde vom Kunst­haus Aarau ausge­lie­hen. Geschaf­fen hat Ilse Weber es vermut­lich in den 1950er Jahren, darauf verwei­sen Stil und Motiv. In ihrem Früh­werk malte sie spät­im­pres­sio­nis­tisch, ab Ende der 1950er Jahre dann Traum­wel­ten und surreal verfrem­dete Realitäten.

Auf den ersten Blick scheint das Gemälde nur aus anein­an­der­ge­reih­ten Elemen­ten zu bestehen, die ein leicht abstrak­tes Muster bilden. Doch dann wird erkenn­bar, dass die Künst­le­rin Ilse Weber in diesem geschickt kompo­nier­ten Gemälde einen Ausblick aus einem Fens­ter und gleich­zei­tig einen Innen­raum zeigt. Die Perspek­tive vor dem Fens­ter teilt das Werk in ein Innen und Aussen – in ein gleich­wer­ti­ges Oben und Unten. Der erste Anhalts­punkt ist ein runder Tisch mit weis­sem Tisch­tuch, darauf eine Vase mit Blumen. Der senk­rechte Balken des dunk­len Fens­ter­rah­mens und seine waag­rechte Basis tren­nen innen und aussen sehr klar. Durch das Fens­ter kann man von oben auf ein Dorf schauen und im Hinter­grund erkennt man Berge und Hügel. Einzelne Bäume lockern mit ihren rund­li­chen Formen die geome­tri­sche Strenge der Gebäude, die aus Recht­ecken und Drei­ecken bestehen. Selbst die Hügel finden ihre Form in präzi­sen Drei­ecken. Das Dorf wird über­ragt vom Kirch­turm, der bis zum oberen Bild­rand reicht und mit seinem düste­ren Blau-Grau eine farb­li­che und formale Paral­lele zum Fens­ter­rah­men bildet.

Die Blumen setzen einen lebhaf­ten Akzent, doch der Gesamt­ein­druck bleibt von einer gewis­sen Schwer­mut geprägt. Es ist, als wäre dieses Werk an einem trüben Tag entstan­den, viel­leicht an einem Vorfrüh­lings­tag nach einem Regen­schauer. Diese Stim­mung wird durch das Zusam­men­spiel von Formen und über­wie­gend trüben Farben kunst­voll vermit­telt. Das Farben­spek­trum ist eher schmal, kalte Töne über­wie­gen, nur das Oran­ge­braun der Tulpen und Dächer sticht mit etwas Wärme hervor. Inner­halb der gebro­che­nen Farb­pa­lette wurde nuan­cen­reich gemischt, verschie­denste Blau-, Grün- und Braun­töne sind zu erken­nen, die Malweise wirkt frei und locker. Durch das Arbei­ten mit groben Pinsel­stri­chen verzich­tete Ilse Weber auf Details zuguns­ten der Gesamt­wir­kung und einer melan­cho­li­schen Stimmung.

Trotz dieser Atmo­sphäre lassen sich opti­mis­ti­sche Hinweise finden: Als stille Besu­che­rin und auf den ersten Blick kaum sicht­bar sitzt eine Taube auf dem Fens­ter­sims. Die Taube steht in der Antike für Unschuld, Sanft­mut und Rein­heit. In der Bibel symbo­li­siert der Vogel den versöhn­li­chen Neuan­fang und verkör­pert den Heili­gen Geist. Ilse Weber dürfte in den 1950er Jahren aber auch an die Frie­dens­taube gedacht haben, die dank Pablo Picas­sos popu­lä­rer Darstel­lung von 1949 die Hoff­nung nach dem Zwei­ten Welt­krieg symbo­li­sierte. Die Tulpen in leuch­ten­dem Orange signa­li­sie­ren Lebens­freude und Opti­mis­mus – aber auch Kraft, Mut und Krea­ti­vi­tät. Sie sind meist ein Zeichen, um den Beginn des Früh­lings einzuläuten.

Ilse Weber

Ilse Zubler begann nach einer Lehre­rin­nen­aus­bil­dung und Ausland­auf­ent­hal­ten zu malen. Nach dem frühen Tod ihres Mannes Hubert Weber gelang es ihr, den Lebens­un­ter­halt als Male­rin für sich und ihre Toch­ter zu verdie­nen. Sie bekam Aufträge für Wand­bil­der und konnte ihre gemäs­sigt moder­nen Gemälde recht gut verkau­fen. Male­risch ursprüng­lich vom Spät­im­pres­sio­nis­mus herkom­mend, wandelte sich das zeich­ne­ri­sche und male­ri­sche Werk Ilse Webers stetig. So sind im Bild an der Neuen Kanti kubis­ti­sche wie auch expres­sio­nis­ti­sche Elemente zu erken­nen. Ilse Weber beschäf­tigte sich während ihres gesam­ten Schaf­fens immer wieder mit Innen- und Aussen­räu­men. Auch diese Kompo­si­tion mit Taube auf dem Fens­ter­sims steht dafür. Von eher reali­täts­na­hen Werken wurde sie Ende der 1950er Jahre immer surrea­ler und traum­haf­ter und gelangte schliess­lich zu gedach­ten und gefühl­ten Bild­wel­ten. Dieses einzig­ar­tige Spät­werk fand grosse Aner­ken­nung, davon zeugen Ausstel­lun­gen in Museen zu ihren Lebzei­ten, aber auch nach ihrem Tod 1984 und bis heute.

Annika Wasem, Schwer­punkt­fach Bild­ne­ri­sches Gestal­ten, 2023