Leise Töne in der Eingangshalle
Ein Werk der leisen Töne ist die «Flöte» von Marianne Geiger. Weisse, aus feinem Kunststein gegossene Vasen bilden vertikal angeordnet eine Säule, die Boden und Decke der Eingangshalle verbindet.
Werkangaben
Künstlerin: Marianne Geiger (*1961)
Titel: Flöte
Jahr: 1994
Technik: Kunststein
Grösse: Höhe 320 cm, Durchmesser 36 cm
Standort: Eingangshalle im Neubau
Leise Töne in der Eingangshalle
Die vertikale Stapelung schafft durch die bauchige Form und den dünnen Hals der Gefässe ein Muster, abwechselnd zwischen kürzeren, dünneren Abschnitten und etwas längeren, breiteren Partien. Besonders auffällig sind die runden Durchbrüche, die auf unterschiedlichen Höhen angebracht sind. Die Durchbrüche und die spiralförmige Verdrehung erzeugen einen Eindruck von Rhythmus und Bewegung.
Obwohl Marianne Geiger ursprünglich nicht vorhatte, eine Flöte darzustellen, sei ihr das Element Rhythmus dennoch wichtig, betont die Künstlerin. Für sie ist alles Rhythmus: das Wasser, die Wolken, das Muster einer Baumrinde. So spielte sie auch bei diesem Werk mit Wiederholung und Rhythmus. Ein Prinzip, das sie sowohl bei plastischen wie bei zweidimensionalen Arbeiten liebt.
Beim freien Gedankenspiel stelle ich mir vor, dass die Säule nicht durch feste Betonschichten begrenzt ist, sondern kontinuierlich weiterläuft, vielleicht im Untergeschoss oder Keller beginnt und sich bis unters Dach erstreckt. Die Durchbrüche lassen Licht durch die Gefässe strahlen und ermöglichen einen Blick durch die Skulptur hindurch auf die andere Seite. Beim Durchblick entsteht ein Kreis von Alltagsszenen. So wird die belebte Eingangshalle des Schulhauses in das Kunstwerk einbezogen.
Ein zentrales Element dieser Plastik ist die Abstraktion und die Reduktion auf grundlegende Formen, hier vasenähnliche Gefässe. Obwohl deutlich als solche erkennbar, wird deren Volumen durchbrochen, womit das Gegenständliche in Frage gestellt und ihre Gebrauchsfunktion negiert wird. Dies ist typisch für die zeitgenössische Kunst, die oft versucht, die Essenz von Objekten oder Ideen darzustellen.
Der Guss in vorgefertigte Formen und das durchgängige Weiss erzeugen eine klare, reine Wirkung, was charakteristisch ist für minimalistische Kunst, die bewusst auf Details und eine persönliche Handschrift verzichtet.
Im Gespräch mit Marianne Geiger, aber auch beim Betrachten ihrer früheren Werke wird klar, dass es das Beinhaltende ist, was die Künstlerin fasziniert. Sie erzählt von ihrer Zeit an der Kunstgewerbeschule in Zürich, wo sie ausschliesslich im zweidimensionalen Bereich arbeitete. Bald entwickelte sie eine Faszination für archaische Gefässe, für Vasenkrüge und Transportgefässe afrikanischer Kulturen.
Über den praktischen Sinn hinaus war sie fasziniert davon, dass Töpfe und Krüge aus Ton hergestellt wurden, also aus Materialien direkt von der Erde, um später wieder von der Erde geschaffene Materialien zu transportieren. Die «Flöte» erinnert an antike Amphoren, die einst als Vorrats- und Transportmittel für Lebensmittel dienten.
Auf die Frage nach Vorbildern nennt Marianne Geiger Hans Arp als Inspiration für Skulpturen und Plastiken. Constantin Brâncusi beeindruckte sie durch seine Formensprache, die Rhythmen seiner Skulpturen und seinen liebevollen Umgang mit Materialien.
Marianne Geiger wurde für eine künstlerische Gestaltung am Neubau der Neuen Kantonsschule angefragt und sie hat dieses Werk auch spezifisch für diesen Ort hergestellt. Bei einem Rundgang über das Schulgelände fiel ihr besonders die Drehtür aus Glas in der hellen Eingangshalle auf. Sie wusste, dass dies der perfekte Ort für ihre Plastik sein würde. Die Offenheit des Raumes und die Tatsache, dass das Werk aus verschiedensten Winkeln zu sehen sein würde, regte sie an, die Amphoren mit horizontalen Durchbrüchen zu versehen und somit variantenreiche Durchblicke zu ermöglichen. Sie freut sich auch heute noch, wenn sie am Schulgebäude vorbeigeht und das Werk durch die Glasscheiben sehen kann.
Marianne Geiger absolvierte später eine heilpädagogische Ausbildung und merkte, wie sich ihre Leidenschaft in ein anderes Medium verwandelte. Sie sagt, dass sie heute gewissermassen immer noch mit Körpern arbeitet, nun aber anstatt gegenständliche Gefässe den Seelenkörper oder den emotionalen Körper erforscht.
Zoé Besson, Schwerpunktfach Bildnerisches Gestalten, 2023