Bücher ohne Worte
Ziemlich schief und unordentlich hat hier jemand seine Bücher hingestellt, die letzten einfach draufgelegt. Was nach Zufall aussieht, ist aber gewollt. In Bronze gegossen stehen die Bücher unverrückbar da.
Werkangaben
Künstler: Christian Rothacher (1944 – 2007)
Titel: ohne Titel
Jahr: vor 1994
Material: Bronze
Grösse: Höhe 38 cm, Breite 55.5 cm, Tiefe 28 cm
Standort: am Rand der Wiese vor der Turnhalle
Bücher ohne Worte
Zehn schräg aneinander gelehnte Bücher stehen kompakt auf einem rechteckigen grauen Betonsockel. Sie sind unterschiedlich dick und gross. Weitere drei liegen obenauf, schräg nach innen gekippt. Scheinbar locker und lose sind sie angeordnet. Die Form lässt gar an ein ungeordnetes Bücherregal denken, doch Zufall ist die Anordnung nicht, sind die Bücher doch in Bronze gegossen – was immer geplant und bewusst gestaltet passiert.
Das eher kleinformatige Werk wirkt blockhaft, hart und eckig. Eine Symmetrie entsteht durch die beiden Büchergruppen, die sich leicht nach links und rechts neigen – sowie durch die daraufgelegten Bücher, die beidseitig nach oben und aussen streben. Dadurch wirkt die Skulptur statisch und lebendig zugleich. Sie hat eine eher geschlossene Form, doch die schräg angelehnten und diagonal gestapelten Bücher bilden drei Hohlräume und erzeugen somit Durchblicke.
Man sieht die Form der Bücher am besten in Frontalansicht, aus einer gewissen Distanz und auf Augenhöhe. Das Werk steht ziemlich einsam auf der grossen Wiese, umgeben von den Schulgebäuden. Aus der Nähe betrachtet wirken die Bücher naturgetreu und detailliert geformt.
Meine Sicht aufs Werk
Auf den ersten Blick scheint das Kunstwerk simpel zu sein: Bücher auf einem Betonsockel. Die Anordnung der Bücher erinnert an ein unkonventionelles Bücherregal – eine Darstellung, die in der Realität nicht Bestand hätte, da die Schwerkraft die Bücher zu Fall bringen würde. Wollte der Künstler mit den Büchern etwas darstellen, was in der realen Welt nicht existiert? Möglicherweise sieht man in den Büchern einen Eulenkopf, wobei die beiden eckigen Durchblicke rechts und links die Augen und der zentrale Raum den Schnabel repräsentiert. Die Eule steht auf einem Sockel und wirkt wie ein Schutzwächter, der die Schulhäuser im Auge behält. Zudem steht das Buch als Symbol für Wissen und die Eule als Symbol der Weisheit. Das kann auf dem Campus der Neuen Kanti kein Zufall sein!
So stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, dass das Kunstwerk mehrdeutiger ist, als es auf den ersten Blick scheint. Was anfangs als formal schlichtes Kunstwerk erschien, entpuppt sich als faszinierender, hintergründiger und anziehender Kunstgegenstand.
Christian Rothacher
Christian Rothacher arbeitete in jungen Jahren als Mustermacher bei der Schuhfabrik Bally. Seine handwerkliche Präzision erkennt man auch beim Werk auf dem Campus der Neuen Kanti an den naturalistisch wirkenden Büchern. Nach einem Studium an der F+F Kunstschule Zürich wandte er sich ausgehend von der Pop Art «kunstfremden» Materialien wie Ästen, Fellen oder Schnüren zu. Er schuf auch Werke in Manier der Arte Povera.
Zusammen mit weiteren Künstlern gründete er die Ateliergemeinschaft Ziegelrain in Aarau, die von 1967 bis 1975 bestand. Die jungen, eigenständigen Künstlerpersönlichkeiten einte das gemeinsame Interesse an neuen, zeitgenössischen Kunstströmungen, die die Kunst weg vom Produkt hin zum Prozess führten (Erweiterter Kunstbegriff).
Christian Rothacher interessierte sich für eine «andere Sicht auf die Dinge». Deshalb präsentierte er oft phantasievolle, ironische, humorvolle und neue Interpretationsmöglichkeiten von gewöhnlichen Objekten, wie in diesem Kunstwerk, in dem er mit Büchern auf spielerische Weise ein plastisches Arrangement schuf. Damit steht er in der Tradition der Pop Art. Die Pop Art ist durch ihren ironischen und kritischen Blick auf die konventionelle Kunst und die Gesellschaft gekennzeichnet. Sie ermutigt die Menschen, ihre Umwelt mit neuen Augen zu sehen und zu hinterfragen, was als «künstlerisch wertvoll» angesehen wird.
Wie viele Künstler seiner Zeit versuchte Rothacher, Leben und Kunst nicht zu trennen. Oft benutzte er Palette, Pinsel und Bleistift, die Insignien des «Künstlerseins», um überraschende dreidimensionale Werke zu kreieren. Er stellte damit Fragen wie: Inwiefern ist Kunst autonom? Er sah seine Kunst als Mittel, um Bilder einer anderen, besseren Welt zu entwerfen oder um zumindest auf die Absurditäten dieser Welt aufmerksam zu machen.
Elif Selek, Schwerpunktfach Bildnerisches Gestalten, 2023